Drucken

Fallbeispiel: "Was soll ich nur tun?"

02.12.2016

Kommentiertes Fallbeispiel – „Was soll ich nur tun?“

Nachfolgend beschreibe ich ein Original-Fallbeispiel aus einer mündlichen Prüfung. Der Fall ist etwas länger und gibt Raum für mehrere Verdachtsdiagnosen und mögliche Fragen der Prüfer.

 

Fallbeispiel:

Die 38-jährige Anita S. kommt zu Ihnen in die Praxis. Sie sagt, eigentlich wisse sie gar nicht, ob sie hier richtig sei. Eine Freundin hat sie geschickt und meinte, es täte ihr vielleicht ganz gut.

Anita S. klagt darüber, seit etwa einem halben Jahr an Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und häufiger Müdigkeit zu leiden.

Zu Ihrer derzeitigen Lebenssituation gibt sie an:

Seit 8 Jahren ist sie mit einem Mann befreundet, der sie jetzt auch heiraten und mit ihr zusammenziehen möchte. Aber sie weiß nicht so recht, ob das wirklich die richtige Entscheidung ist.  Einerseits kann sie sich ihr Leben ohne ihn nicht vorstellen, andererseits ist sie sich unsicher, ob sie ihn wirklich heiraten will. Sie hat schon oft darüber mit engen Freunden gesprochen, aber keiner kann ihr dazu einen richtigen Ratschlag geben. Diese Unsicherheit kennt sie schon aus ihrer Jugendzeit. Da hat sie auch schon immer ihre Mutter und ihre Freundinnen um Rat gefragt.

Hinzu kommt, dass sie die sozialen Aktivitäten mit ihrem Freund nie so richtig teilen kann. An den Unternehmungen mit seinen Freunden und Bekannten hat sie keine rechte Freude, sie liegt lieber Zuhause im Bett und liest. Auch der geplante Urlaub im nächsten Jahr verursacht bei ihr ein eigenartiges Gefühl – sie kann sich gar nicht darauf freuen. Seit ihr Freund ihre Unsicherheit bemerkt hat, hat sie das Gefühl, er nörgelt ständig an ihr herum. Jetzt hat sie große Angst, dass er sie verlassen wird und sie ganz alleine dasteht. „Was soll ich nur tun?“, wendet sich Anita S. hilfesuchend an Sie.

 

Symptombeschreibung:

  • die Symptome Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und häufige Müdigkeit seit einem halben Jahr deuten auf ein depressives Syndrom hin

    Wichtig: eine körperliche Ursache der o. g. Symptome muss ärztlich ausgeschlossen sein/werden!

    -> auch die Symptome sozialer Rückzug (liegt lieber im Bett und liest), Interessenverlust (an Unternehmungen) und Freudlosigkeit (hinsichtlich des geplanten Urlaubs) weisen darauf hin
     
  • Unsicherheit bzw. bei wichtigen Entscheidungen den Ratschlag anderer einzuholen seit der Jugendzeit ist ein charakteristisches Merkmal der abhängig (asthenischen) Persönlichkeitsstörung (PS)

    -> dazu passt auch die Aussage von Anita S., von der Freundin zu Ihnen in die Praxis „geschickt worden zu sein“

    -> ein weiteres Merkmal der abhängig-asthenischen PS ist auch die große Angst, verlassen zu werden und auf sich selbst angewiesen zu sein (Angst, dass ihr Freund sie verlassen wird und sie ganz alleine dasteht)

 

Verdachtsdiagnose 1: depressive Episode mittelgradig (F32.1)

  • für eine depressive Episode müssen mindestens 2 der 3 Hauptsymptome:

    1. gedrückte Stimmung

    2. Interessensverlust/Freudlosigkeit
    3. Antriebsminderung, erhöhte Ermüdbarkeit

    seit mindestens 2 Wochen vorliegen

    -> dies ist hier der Fall: Antriebslosigkeit und häufige Müdigkeit seit einem halben Jahr; hinzu kommen Interessensverlust und Freudlosigkeit, allerdings ohne Zeitangabe
     
  • für die Einteilung „mittelgradig“ müssen mindestens 3 (besser 4) der anderen Symptome vorliegen:

    1. verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit

    2. vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

    3. Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit

    4. negative und pessimistische Zukunftsperspektiven

    5. Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzung oder Suizidhandlungen

    6. Schlafstörungen

    7. Appetitverlust

 

-> in der Fallgeschichte werden nur Schlafstörungen geschildert; weitere der o. g. Symptome müssten noch exploriert werden, um die Diagnose zu bestätigen

-> bei den genannten Schlafstörungen sollte auch nach frühmorgendlichem Erwachen und/oder Morgentief nachgefragt werden (das zum somatischen Syndrom der Depression gehört) - weitere Details finden Sie in Skript Nr. 5 "Affektive Störungen"

 

CAVE: beim depressiven Syndrom besteht grundsätzlich eine hohe Suizidalität – diese muss in der Therapie unbedingt angesprochen werden (dies auf jeden Fall in der Prüfung erwähnen!)

 

Mögliche weiterführende Fragen der Prüfer hierzu:

  • Aufzählung der möglichen Symptome einer depressiven Episode (Hauptsymptome, andere Symptome, somatisches Syndrom) und Einteilung in die Schweregrade (leicht, mittelgradig – mit und ohne somatischem Syndrom, schwer – mit und ohne psychotischen Symptome)
  • Vorgehen bei akuter Suizidalität und gesetzliche Grundlagen (z. B. Unterbringung) – Details dazu finden Sie in Skript Nr. 6: "Suizidalität und Juristische Aspekte"

 

Verdachtsdiagnose 2: Anpassungsstörung (F43.2)

  • Grundvoraussetzung für eine Anpassungsstörung ist, dass den depressiven Symptomen ein eindeutig nachgewiesenes belastendes Ereignis, Situation oder Lebenskrise vorausgegangen ist
  • -> dies ist in der Fallgeschichte nicht ersichtlich und muss nachgefragt werden

 

Mögliche weiterführende Fragen der Prüfer hierzu:

  • angenommen, bei Anita S. ist ein belastendes Lebensereignis den Symptomen vorausgegangen, welche klinischen Bilder der Anpassungsstörung kämen hier in Frage?

 

Mögliche Antworten:

  • Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.21): Dauer der depressiven Symptome länger als 1 Monat
  • Angst und depressive Reaktion gemischt (F43.22): es liegen depressive Symptome und auch Angst (vor dem Verlassen werden) vor

 

Verdachtsdiagnose 3: abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (F60.7)

  • nach den diagnostischen Leitlinien (ICD 10) müssen mindestens 3 der nachfolgenden 6 Merkmale vorhanden sein:

    1. Verantwortung für wichtige Bereiche des eigenen Lebens wird anderen überlassen oder es wird an die Hilfe anderer appelliert

    2. Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht und eine unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen anderer

    3. mangelnde Bereitschaft zur Äußerung angemessener Ansprüche gegenüber Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht

    4. eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidungen ohne Ratschläge anderer zu treffen

    5. Ängste vor Verlassen werden und davor, auf sich selbst angewiesen zu sein und ein ständiges Bedürfnis, sich des Gegenteils zu versichern

    6. beim Alleinsein unbehagliche Gefühle aus übertriebener Angst, nicht für sich sorgen zu können

 

  • in unserer Fallgeschichte finden sich Merkmale zu

    Punkt 1.: andere um Rat fragen hinsichtlich der Hochzeit sowie die Fragestellung an Sie „was soll ich nur tun?“


    Punkt 4.: kommt auf den Ratschlag der Freundin zu Ihnen in die Praxis

    Punkt 5.: Angst, dass der Freund sie verlässt und sie alleine dasteht

    die die Verdachtsdiagnose einer abhängigen (asthenischen) PS bestärken

 

ABER – Wichtig: eine Persönlichkeitsstörung an sich (unabhängig vom spezifischen Typ) kann nur unter bestimmten Voraussetzungen diagnostiziert werden:

 

alle der folgenden 6 Punkte müssen zusätzlich erfüllt sein:

1. Das Verhalten und die Einstellung weicht in mehr als einem der Bereiche: Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Kognition und Beziehungen zu anderen deutlich von den in der Gesellschaft erwarteten und akzeptierten Normen ab.

2. Das auffällige Verhaltensmuster ist dauerhaft (nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt).

3. Das auffällige Verhaltensmuster ist so stark ausgeprägt (tiefgreifend), dass es in vielen persönlichen und sozialen Situationen unangepasst, unflexibel oder unzweckmäßig ist.

4. Die Störung beginnt immer in der Kindheit oder Jugend und manifestiert sich im Erwachsenenalter.

5. Das abnorme Verhaltensmuster führt zu deutlich subjektivem Leiden (manchmal erst im späteren Verlauf).

6. Die Störung führt meistens (nicht immer) zu deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit.

 

-> aus der Fallgeschichte können wir nur Punkt 4. entnehmen; die restlichen, für die Diagnose einer PS notwendigen Merkmale, müssen weiter exploriert werden

 

Mögliche weiterführende Fragen der Prüfer hierzu:

  • sehr häufig wird an dieser Stelle nachgefragt, welche anderen spezifischen Persönlichkeitsstörungen Sie kennen und welche Merkmale diese haben – Details hierzu finden Sie in Skript Nr. 9: "Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen"

 

Weitere Anmerkungen:

  • die abhängige (asthenische) PS hat u. a. eine hohe Komorbidität mit depressiven Syndromen

-> dies stützt zusätzlich die o. g. Verdachtsdiagnosen!

 

Mögliche weiterführende Fragen der Prüfer hierzu:

  • arbeiten Sie mit Anita S.?

 

Antwortvorschläge:

  • Wenn es sich um eine Anpassungsstörung handeln sollte, ja. Ich könnte sie mit der Gesprächspsychotherapie nach Rogers dabei unterstützen, das belastende Lebensereignis mit den entsprechenden Gefühlen zu verarbeiten und ihr mit Entspannungsübungen zu einer vegetativen Entlastung verhelfen.

    Zu berücksichtigen ist dabei allerdings die zugrunde liegende Persönlichkeitsstörung:
     
  • Für die Therapie der Persönlichkeitsstörung erfordert es viel Erfahrung seitens des Therapeuten, die ich noch nicht habe. Außerdem dauert erfahrungsgemäß die Therapie einer PS länger, deshalb würde ich ihr empfehlen - sollte Anita S. die nötige Therapiemotivation haben - einen Therapeuten mit kassenärztlicher Zulassung aufzusuchen.

    Bei der Suche nach einem geeigneten kassenärztlich zugelassenen Therapeuten würde ich sie unterstützen und – sollte ein Therapieplatz erst nach längerer Wartezeit für sie frei werden, was ja leider häufig der Fall ist – würde ich ihr anbieten, sie bis dahin supportiv zu begleiten.

     
  • Wenn es sich aktuell um eine depressive Episode aus dem Bereich F3 handeln sollte, nein, dann darf ich gar nicht mit ihr arbeiten. Ich würde ihr empfehlen, ihren Hausarzt oder direkt einen Psychiater aufzusuchen, die Kontaktdaten gebe ich ihr.

 

 

Wörterbuch:

 

Exploration, explorieren (lat.: explorare = herausfinden, erkunden)

  • medizinisch: gezielte Erhebung von Krankheitszeichen

astehnisch (gr.: astehnes = Schwäche, Kraftlosigkeit)

  • schwach, kraftlos, matt

Komorbidität  (lat.: morbidus = krank / morbus = Krankheit)

  • das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer Grunderkrankung (auch: Begleiterkrankungen), die ein eigenes abgrenzbares Krankheitsbild darstellen
  • häufig hängen Komorbiditäten  mit der Grunderkrankung zusammen; sie können aber auch völlig unabhängig davon sein