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Internetsucht

29.09.2016

Internetsucht – starke psychopathologische Belastung für Betroffene

Auch wenn Internetsucht (bislang) keine offizielle Diagnose einer psychischen Erkrankung im ICD 10* oder DSM 5**  darstellt, wird inzwischen in vielen Fachzeitschriften darüber diskutiert. Auch der Drogen- und Suchtbericht 2016 der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) enthält einen Abschnitt über „Computerspiel- und Internetabhängigkeit“.

Grund genug, um sich als (angehender) Heilpraktiker für Psychotherapie einen kurzen Überblick darüber zu verschaffen.

Als Internetsucht (auch: „pathologischer Internetgebrauch“ oder „Computerspielabhängigkeit“) wird eine exzessive Internetnutzung verstanden, die zu subjektiven Beeinträchtigungen und negativen Konsequenzen in mindestens einem Lebensbereich (z. B. soziales oder/und berufliches Umfeld) führt.

Mittlerweile zeigen viele Studien die ernstzunehmende psychopathologische Belastung betroffener Personen. Hinzu kommt eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Erkrankungen wie z. B. Depression, bipolare affektive Störung, Angsterkrankungen oder ADHS.

Zur aktuellen Datenlage in Deutschland berichtet die BZgA:

  • ca. 560.000 Menschen zwischen 14 und 64 Jahren gelten als internetabhängig; dies entspricht einer Prävalenz von ca. 1% (Frauen: 0,8 %; Männer: 1,2%) in dieser Altersgruppe
     
  • jüngere Menschen sind häufiger betroffen: in der Altersgruppe von 14 bis 24 Jahre sind ca. 250.000 Personen (2,4%) betroffen, davon sind ca. 100.000 zwischen 14 und 16 Jahre alt
     
  • Internetsucht scheint kein Problem bestimmter gesellschaftlicher Schichten zu sein, sondern kommt vielmehr in allen sozialen Gruppierungen vor.


Wie erwähnt, ist „Internetsucht“ bislang nicht in die Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen aufgenommen worden. Über die diagnostischen Kriterien wird weiterhin diskutiert.

Allerdings macht das DSM 5 für einen Bereich der Internetsucht, nämlich der „pathologischen Computerspielnutzung“ ("Internet Gaming Disorder"), Vorschläge für diagnostische Kriterien:

Vorgeschlagene Kriterien zur „Störung durch Spielen von Internetspielen“ aus dem DSM 5 (Auszug):

Dauerhafte und wiederkehrende Nutzung des Internets, um sich mit Spielen zu beschäftigen, führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden, wobei mindestens 5 der folgenden Kriterien innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten vorliegen.

  1. Übermäßige Beschäftigung mit Internetspielen (der Betroffene denkt über vorhergehende Spielaktivitäten nach oder beabsichtigt, das nächste Spiel zu spielen; das Spielen von Internetspielen wird zur Haupttätigkeit des Tages)
  1. Entzugssymptomatik, wenn das Spielen von Internetspielen wegfällt (z. B. Reizbarkeit, Ängstlichkeit oder Traurigkeit; es finden sich jedoch keine körperlichen Zeichen eines pharmakologischen Entzugssyndroms)
  1. Toleranzentwicklung – das Bedürfnis, zunehmend mehr Zeit mit dem Spielen von Internetspielen zu verbringen
  1. Kontrollverlust - erfolglose Versuche, die Teilnahme an Internetspielen zu kontrollieren
  1. Interessenverlust an früheren Hobbys und Freizeitbeschäftigungen
  1. fortgeführtes exzessives Spielen von Internetspielen trotz psychosozialer Probleme
  1. Täuschen von Bezugspersonen bezüglich des Umfangs des Internetspielens
  1. Nutzen des Internetspielens, um einer negativen Stimmungslage zu entfliehen oder sie abzuschwächen (z. B. Gefühl der Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Ängstlichkeit)
  1. Gefährdung oder Verlust einer wichtigen Beziehung, der Arbeitsstelle oder Ausbildungs-/Karrieremöglichkeiten aufgrund der Teilnahme an Internetspielen


CAVE:
Diese Störung ist von Glücksspiel im Internet zu unterscheiden, das der Diagnose „Pathologisches Glücksspiel“ zuzuordnen ist.

Nur Internetspiele, die keine Glücksspiele sind, werden diesem Störungsbild zugeordnet.
Die Verwendung des Internets für notwendige geschäftliche und berufliche Aktivitäten wird nicht eingeschlossen sowie die Internetnutzung für Freizeit oder soziale Kontakte.
Internetseiten mit sexuellem Inhalt sind ebenfalls ausgeschlossen.


Die o. g. vorgeschlagenen Diagnosekriterien des DSM 5 sind den Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung im ICD 10 (F1x2) sehr ähnlich. Insofern wird die Computerspielabhängigkeit auch dem Bereich der Verhaltenssüchte (stoffungebundene Suchterkrankungen) zugeordnet und nicht dem Bereich der „Störungen der Impulskontrolle“ (F63), wie z.B. "pathologisches Spielen" (F63.0).

Derzeit ist wissenschaftlich noch nicht geklärt, ob weitere internetbezogene Verhaltensweisen in anderen Bereichen (z. B. die exzessive Nutzung sozialer Netzwerke) auch den Verhaltenssüchten zuzuordnen sind. Die Ergebnisse der Studien bleiben abzuwarten.

 

*ICD 10: International Classification of Diseases, 10. Ausgabe, Herausgeber: WHO; in Deutschland gültiges Klassifikationssystem

**DSM 5: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Ausgabe, Herausgeber: American Psychiatric Association); gültig in den USA; gilt in Deutschland als „Nachschlagewerk“, allerdings nicht zur Kodierung von Erkrankungen

 

Wörterbuch:

pathologisch (gr.: pathos = Krankheit, Leiden / logos = Lehre, Wort)

  • krankhaft, die Krankheit betreffend
  • in der Medizin wird der Begriff oder die Vorsilbe „patho-“ für krankhafte oder abnorme Befunde genutzt


Komorbidität (lat.: morbidus = krank / morbus = Krankheit)

  • das Auftreten zusätzlicher Erkrankungen im Rahmen einer Grunderkrankung (auch: Begleiterkrankungen), die ein eigenes abgrenzbares Krankheitsbild darstellen
  • häufig hängen Komorbiditäten  mit der Grunderkrankung zusammen; sie können aber auch völlig unabhängig davon sein


Prävalenz (lat.: praevalere = sehr stark sein)

  • medizinisch: Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung


Quellen:

  • Drogen- und Suchtbericht 2016 der BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
  • Fachzeitschrift „Neurotransmitter 2014; 25 (11)“, Verlag Springer Medizin
  • Fachzeitschrift „Psychologie Heute, Juni 2015“,  Beltz Verlag
  • Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Hogrefe-Verlag, Ausgabe 2015