Drucken

Fallbeispiel: "vegetative Symptome in der U-Bahn"

19.08.2016

Der nachfolgende Fall wurde so oder in ähnlicher Form schon häufiger in der mündlichen Prüfung vorgestellt. Der Text ist zwar sehr kurz, der Fall „hat es aber in sich“, da viele Verdachtsdiagnosen in Frage kommen können.


Fallbeispiel:

„Die 34-jährige Sabine D. bekommt in der U-Bahn plötzlich starkes Herzrasen, Atemnot und Übelkeit. Sie zittert am ganzen Körper und verlässt fluchtartig die U-Bahn an der nächsten Station.

In die U-Bahn“, so denkt sie sich, wird sie nie wieder einsteigen.“

 

Wichtig:

Voraussetzung für alle nachfolgenden Verdachtsdiagnosen ist, dass eine organische Ursache für die körperlichen Beschwerden ausgeschlossen ist. Dies sollte man zu Beginn der Erläuterungen auch so mitteilen.
 

Erläuterungen:
 

Symptombeschreibung:

  • die vegetativen Symptome Herzrasen, Atemnot, Übelkeit und Zittern sind typische Phänomene einer Panikattacke; dazu passt auch das „fluchtartige“ Verlassen der U-Bahn sowie das genannte Vermeidungsverhalten („in die U-Bahn werde ich nie wieder einsteigen“)
  • eine Panikattacke ist ein Angstanfall mit vegetativen Symptomen (z. B. auch Atembeschwerden, Druck auf der Brust, Schweißausbrüche), der plötzlich beginnt
  • die Symptome steigen meist innerhalb kurzer Zeit bis zum Höhepunkt an („Crescendo“ der Angst)
  • eine Panikattacke dauert in der Regel zwischen 10 und 30 Minuten

 

Verdachtsdiagnose 1: Panikstörung (F41.0)

  • wenn Sabine D. häufiger Panikattacken hat, die in unterschiedlichen Situationen ohne Auslöser auftreten und für sie nicht vorhersehbar sind, könnte sie an einer Panikstörung leiden

 

Diagnostische Leitlinien der Panikstörung:

mehrere schwere Angstanfälle (Panikattacken) innerhalb eines Monats:

  1. in Situationen, in denen keine objektive Gefahr besteht
  1. wenn die Angstanfälle nicht auf bekannte oder vorhersagbare Situationen begrenzt sind
  1. zwischen den Attacken müssen weitgehend angstfreie Zeiträume liegen (Erwartungsangst ist jedoch häufig)

 

Verdachtsdiagnose 2: Agoraphobie (F40.00)

die Panikattacke von Sabine D. in der U-Bahn könnte auch ein Hinweis auf eine Agoraphobie sein (dann wäre die Panikattacke Ausdruck des Schweregrades der Agoraphobie):

  • wenn die U-Bahn sehr überfüllt war (eine angstbesetzte Situation bei der Agoraphobie ist z. B. der Aufenthalt in einer Menschenmenge)
  • für die Diagnose Agoraphobie müsste aber noch mindestens eine weitere angstbesetzte Situation (z. B. auf öffentlichen Plätzen oder bei Reisen mit weiter Entfernung) bei Sabine D. vorhanden sein
  • ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Vermeidung der phobischen Situation, dies ist bei Sabine D. der Fall

 

Diagnostische Leitlinien (ICD 10) der Agoraphobie:

es müssen alle folgenden Kriterien erfüllt sein:

  1. Die psychischen oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn- oder Zwangsgedanken beruhen.
  1. Die Angst muss beschränkt sein (oder hauptsächlich auftreten) auf mindestens zwei der folgenden umschriebenen Situationen: in Menschenmengen, auf öffentlichen Plätzen, bei Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause oder bei Reisen alleine.
  1. Vermeidung der phobischen Situation muss ein entscheidendes Symptom sein oder gewesen sein.

 

Verdachtsdiagnose 3: Agoraphobie mit Panikstörung (F40.01)

  • die Agoraphobie tritt häufig (über 50%) gemeinsam mit einer Panikstörung auf
  • liegen bei Sabine D. sowohl die typischen angstbesetzten Situationen einer Agoraphobie mit Vermeidungsverhalten vor als auch das Erleiden von unvorhersehbaren Panikattacken ohne Auslöser, könnte sie an einer Agoraphobie mit Panikstörung leiden

 

Verdachtsdiagnose 4: spezifische (isolierte) Phobie (F40.2)

  • der Angstanfall von Sabine D. könnte auch durch eine spezifische Phobie begründet sein, in diesem Fall durch „Klaustrophobie“ (Angst vor geschlossenen Räumen)
  • die Angst ist hierbei aber auf ganz spezifische Situationen beschränkt, d. h. diese Diagnose kommt nur in Frage, wenn Frau D. keine weiteren angstbesetzen Situationen erlebt (wie z. B. bei der Agoraphobie) und keine unvorhersehbaren Angstanfälle ohne Auslöser erleidet
  • bei einer spezifischen Phobie wird die angstbesetzte Situation oder Objekt – wann immer möglich – gemieden; dies scheint bei Sabine D. der Fall zu sein

 

Diagnostische Leitlinien (ICD 10) der spezifischen (isolierten) Phobien:

es müssen alle folgenden Kriterien erfüllt sein:

  1. Die psychischen oder vegetativen Symptome müssen primäre Manifestationen der Angst sein und nicht auf anderen Symptomen wie Wahn- oder Zwangsgedanken beruhen.
  1. Die Angst muss auf die Anwesenheit eines bestimmten phobischen Objektes oder eine spezifische Situation begrenzt sein.
  1. Die phobische Situation wird – wann immer möglich – vermieden.

 

Verdachtsdiagnose 5: generalisierte Angststörung (F41.1)

  • auch bei der generalisierten Angststörung können einzelne Panikattacken auftreten
  • das Hauptmerkmal der generalisierten Angststörung ist jedoch eine viele Lebensbereiche umfassende anhaltende Angst, die nicht auf bestimmte Situationen oder Objekte begrenzt ist – die Angst ist „frei flottierend“, die Betroffenen haben ein ständig erhöhtes Angstniveau
  • ob dies bei Sabine D. der Fall ist, wäre im Anamnesegespräch weiter zu hinterfragen

 

Diagnostische Leitlinien (ICD 10) der generalisierten Angststörung:

Primäre Symptome von Angst müssen an den meisten Tagen, mindestens mehrere Wochen lang, meist mehrere Monate, vorliegen.

In der Regel sind folgende Einzelsymptome festzustellen:

  1. Befürchtungen (Sorge über zukünftiges Unglück, Nervosität, Konzentrationsschwierigkeiten usw.);
  1. motorische Spannung (körperliche Unruhe, Spannungskopfschmerz, Zittern, Unfähigkeit sich zu entspannen;
  1. vegetative Übererregbarkeit (Benommenheit, Schwitzen, Tachykardie, Oberbauchbeschwerden, Schwindelgefühle, Mundtrockenheit etc.).

 

Verdachtsdiagnose 6: Herzangstsyndrom (F45.30)

  • wenn die vegetativen Symptome von Sabine D. stark herzbezogen sind und sie eine starke Angst davor hat, einen „Herzanfall“ zu erleiden, könnte auch ein Herzangstsyndrom (oder auch Herzneurose genannt) vorliegen
  • bei der Herzneurose kommt es zu anfallsartigen psychogenen (ohne körperlichen Befund) „Herzattacken“ und es besteht eine große, panische Angst davor, einen Herzanfall zu erleiden
  • die herzbezogenen Symptome beginnen meist akut, ohne Vorboten, z. B. starkes Herzrasen, Atemnot und Übelkeit (wie bei Sabine D.) oder auch Brennen und Hitzegefühl an der Herzspitze, Schmerzen oder Ziehen im linken Brustbereich oder linken Arm
  • was zur Diagnose nicht unbedingt gehört, ist das Vermeidungsverhalten, das Sabine D. in der Fallgeschichte zeigt; auch sind vom Herzangstsyndrom häufiger Männer als Frauen betroffen
  • das Herzangstsyndrom wird im ICD 10 unter den somatoformen Störungen klassifiziert; genau: somatoforme autonome Funktionsstörung des Herz- und Kreislaufsystems (F45.30)

 

Diagnostische Leitlinien (ICD 10) der somatoformen autonomen Funktionsstörung:

Eine eindeutige Diagnose erfordert alle folgenden Bedingungen:

  1. Hartnäckige und störende Symptome der vegetativen Stimulation wie Herzklopfen, Schwitzen, Zittern und Erröten.
  1. Zusätzliche subjektive Symptome bezogen auf ein bestimmtes Organ oder System.
  1. Intensive und quälende Beschäftigung mit der Möglichkeit einer schwerwiegenden, aber oft nicht näher bezeichneten Erkrankung des genannten Organs oder Organsystems; diese Beschäftigung wird auch nach wiederholten Erklärungen und Versicherungen der Ärzte nicht aufgegeben.
  1. Kein Anhalt für eine eindeutige Störung der Struktur oder Funktion des betreffenden Systems oder Organs.


CAVE: denken Sie bei Angststörungen auch an eine mögliche erhöhte Suizidalität, v. a. auch, da Angststörungen häufig mit einer depressiven Begleitsymptomatik verbunden sind!


Weitere Details und Erläuterungen finden Sie in Skript Nr. 7 „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“

 

Wörterbuch:

Phobie (gr.: phob =  „furchtsam/scheu“) - krankhafte Furcht/Angst vor etwas

Agoraphobie (gr.: agora = Markplatz) - wörtlich: „Angst vor dem Markplatz“ / im weiteren Sinn: Angst, öffentliche Plätze zu betreten

Klaustrophobie: (lat.: claustrum = Verschluss, Riegel) - im weiteren Sinn: Angst vor verschlossenen Räumen

Crescendo (ital.: anwachsend, steigend)

flottierend (franz.: schwankend, wechselnd) - medizinisch: frei beweglich

Tachykardie (gr.: tachy = Wortteil mit der Bedeutung "schnell, plötzlich"/ cardia = Herz) - wörtlich: Schnellherzigkeit / umgangssprachlich: Herzrasen / medizinisch: anhaltend beschleunigter Pulsschlag
 

Diagnostische Leitlinien: Internationale KLassifikation psychischer Störungen, ICD 10, Kapitel V (F), WHO, Verlag Hans Huber, 8. überarbeitete Auflage 2011