03.07.2017
kommentiertes Fallbeispiel – „Das verschwundene Gedächtnis“
In letzter Zeit werden in der mündlichen Prüfung immer häufiger Fallbeispiele mit Gedächtnisstörungen vorgestellt, die ein demenzielles Syndrom vermuten lassen. Aber Vorsicht: Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen können auch bei anderen psychischen Störungen vorkommen!
Dazu nachfolgendes Fallbeispiel:
Werner K., 66 Jahre, kommt auf Anraten seiner Frau in Ihre Praxis. Er berichtet Ihnen stockend mit leiser Stimme, dass er seit gut einem halben Jahr in Rente sei.
Zuerst habe er sich gefreut, endlich einmal Zeit für Dinge zu haben, die im Berufsalltag immer zu kurz gekommen sind. „Aber ich konnte mich nie so recht dazu aufraffen, nichts macht mir Freude“, erzählt er weiter. „Meine Frau ist sehr enttäuscht, sie hat immer wieder unsere Freunde eingeladen, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich will aber niemanden sehen, ich sitze lieber alleine im Garten. Auch zur Gartenarbeit, was mir immer viel Freude gemacht hat, kann ich mich nicht mehr aufraffen“, berichtet er weiter.
„Zuerst dachte ich, das geht wieder vorbei, aber jetzt werde ich auch noch vergesslich“, sagt er voller Angst. „Stellen Sie sich vor, vor ein paar Tagen bin ich zum Einkaufen gefahren und konnte mich nicht mehr daran erinnern, was ich einkaufen wollte, so als ob mein Gedächtnis verschwunden wäre. Und vorgestern Morgen wollte ich ein Kreuzworträtsel lösen, was mir sonst immer sehr leicht fällt, und es ging einfach nicht mehr. So als ob ich nicht mehr denken könnte, als ob mein Kopf völlig leer wäre. Das macht mir richtig Angst.....werde ich jetzt dement? Hoffentlich können Sie mir helfen!“
Erläuterungen:
Symptombeschreibung:
CAVE:
Bei depressiven Symptomen zu allererst eine mögliche Suizidalität abklären, indem sie direkt angesprochen wird!
Mögliche Verdachtsdiagnosen:
Verdachtsdiagnose 1: Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (F43.21)
Da die depressiven Symptome im Zusammenhang mit dem Renteneintritt stehen, könnte man von einer Anpassungsstörung ausgehen.
ABER: die depressiven Symptome sind für diese Diagnose zu massiv.
Das ICD gibt bei der Anpassungsstörung an:
„Ein leichter depressiver Zustand als Reaktion auf eine länger anhaltende Belastungssituation.“
Verdachtsdiagnose 2: beginnende Demenz bei Alzheimer-Krankheit mit spätem Beginn (F00.1)
Die geschilderten Gedächtnisstörungen sind Leitsymptome einer beginnenden Demenz. Auch das Alter von Werner K. (66 Jahre) ist ein wichtiger Risikofaktor.
Bei einer beginnenden Demenz kann es auch zu depressiver Verstimmung und sozialem Rückzug kommen.
ABER: Untypisch für eine Alzheimer-Demenz ist der plötzliche Beginn der Gedächtnisstörungen (vor ein paar Tagen) und dass Werner K. diese beklagt und beschreibt. Alzheimer-Patienten versuchen meist, diese Defizite zu verbergen.
Verdachtsdiagnose 3: „Pseudodemenz“ im Rahmen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (F32.2) – hier die wahrscheinlichste Diagnose!
Bei einer „Pseudodemenz“ (auch „Altersdepression“, ab dem 65. Lebensjahr) kommen zu den depressiven Symptomen auch massive Gedächtnisstörungen hinzu. Durch die depressive Hemmung können die kognitiven Fähigkeiten so beeinträchtigt sein, dass die Betroffenen den Eindruck haben, sie können nicht mehr denken oder sich an nichts erinnern.
Als Risikofaktoren für eine Altersdepression gelten v. a. die genetische Disposition, aber auch die Einnahme bestimmter Medikamente. Häufig gibt es eine erkennbare Auslösesituation (hier: Renteneintritt).
Bei den über 65-Jährigen ist die Altersdepression oder "Pseudodemenz" eine der häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie ist mit einer hohen Suizidalität verbunden!
Die Unterscheidung zwischen einer beginnenden Demenz (F0) und einer „Pseudodemenz“/Altersdepression (F3) ist nicht immer eindeutig.
Die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale habe ich Ihnen deshalb hier in einer Tabelle als Download zusammengefasst:
Download Demenz / "Pseudodemenz"
Weitere Details und Erläuterungen finden Sie in Skript Nr. 2 „F0: Organische psychische Störungen“ und Skript Nr. 5 „F3: Affektive Störungen“
Wörterbuch:
Syndrom (gr.: syn = zusammen / dromos = Weg, Lauf)
das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Symptome, die häufig zusammen auftreten (auch: „Symptomenkomplex“)
Quellen: